Fassaden – variabel wie Kleidungsstücke (08/22/2011 07:00:00 AM)

Glas hat eine glorreiche Zukunft, sagt HPP-Architekt Remigiusz Otrzonsek. Es wird künftig noch mehr Funktionen in der Fassade übernehmen – aber es kann und soll nicht alle übernehmen, so Elmar Jochheim von AMP. Was Glas schon heute alles kann, darüber wäre Generalunternehmer Anton Bausinger gerne umfassend informiert. Diese und eine Fülle weiterer Aspekte rund um das Thema Glas in der zeitgenössischen Architektur diskutierten Bauherren, Architekten, Fassadeningenieure und Experten des Flachglas¬herstellers Saint-Gobain Glass Deutschland auf dessen Einladung in einem Hintergrundgespräch.
Bodo Vodnik: Welche Bedeutung hat für Sie beim Bauen der Werkstoff Glas?
Remigiusz Otrzonsek: „Glas hat mit Emotion zu tun. Das Auflösen der Grenze zwischen innen und außen war eine Hauptmotivation für transparente Architektur. Heute geht es vor allem um Energieeffizienz. Aber man kann Architektur nicht nur mit dem Grundsatzgedanken machen, Energie einzusparen. Andere Faktoren sind ebenfalls sehr wichtig, vor allem die Menschen, die dann in dem Gebäude arbeiten, schlafen, wohnen, nachdenken.“
Elmar Jochheim: „Wir sind im Moment in einer Phase des Umdenkens: Von gesetzlicher Seite gibt es verschiedene Zertifizierungsmodelle mit dem Ziel, höchstmögliche Energieeffizienz zu erlangen. Aber diese Zertifizierungsmodelle sind zurzeit noch Versuchsmodelle mit einigen Tücken. Das eigentliche Ziel ist ja nicht, 40, 60 oder 90 % Glasanteil im Gebäude zu haben, sondern eine funktional optimale, auf die gewünschte Nutzung bezogene Lösung. Was nützt ein Gebäude, das keine Energie mehr verbraucht, in dem sich aber niemand wohlfühlt, in dem kein Mensch leben oder arbeiten will.“
Peter Berner: „Der Baustoff Glas hat enorme Chancen und Potenziale. Seine Chancen sind aber auch gleichzeitig seine Herausforderungen: Es gibt kein Material, das so stark mit Licht, Wetter, Tages- und Jahreszeiten zu tun hat wie Glas. Mich persönlich reizt am Bauen mit Glas, dass die Häuser erst dann, wenn sie wirklich auch belebt werden, wenn sie nicht mehr als Skulptur dastehen, sondern ein Ausdruck der Menschen sind, die in ihr leben, in den eigentlichen Dialog mit der Umgebung treten. Und das hat mit Energieeffizienz – die es natürlich zu beachten gilt – erst einmal nichts zu tun.“
Alexander Schröter: „Die gesetzlichen Anforderungen an die Energieeffizienz von Gebäuden werden immer strenger und der Einsatz regenerativer Energien gewinnt in diesem Zusammenhang immer mehr an Bedeutung. Glas in seiner Funktion als Tageslichtlieferant nimmt hierbei eine wichtige Stellung ein. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass beispielsweise bei Bürogebäuden der Anteil der Beleuchtung am Primärenergiebedarf des Gebäudes typischerweise bei 25 bis 40 % liegt. Werden Wärme und ggf. auch Kälte zukünftig regenerativ erzeugt, wird eine gute Tageslichtversorgung auch unter energetischen Gesichtspunkten immer wichtiger.“

Remigiusz Otrzonsek 



Alexander Schröter



Anton Bausinger/Elmar Jochheim
Bodo Vodnik: Fassaden aus Glas übernehmen schon heute Funktionen, die vor wenigen Jahrzehnten ausschließlich dem Mauerwerk vorbehalten waren. Welche Trends sehen Sie für den künftigen Einsatz von Glas in der Fassade?
Elmar Jochheim: „In den 1990er-Jahren sind die Rufe nach der 100-Prozent-Glasfassade laut geworden. Insbesondere bei den Doppelfassaden hat es sehr viele gute Lösungen gegeben, aber auch einige Fehlplanungen. Solche Negativ-Einzelfälle haben dazu geführt, dass sich unzutreffende Vorurteile hartnäckig hielten, Hochhäuser aus Glas seien nicht realisierbar ohne energetisch unsinnig hochdimensionierte Klimaanlagen. Partielle Fehlentwicklungen dürfen aber dem Fortschritt und der Weiterentwicklung nicht im Wege stehen. Die Industrie muss mutiger sein bei der Forschung und Entwicklung neuer Gläser.“
Alexander Schröter: „Die große Herausforderung für die Zukunft ist das Netto-Null-Energiehaus, dieses Ziel hat die EU bereits vorgegeben. Hierbei wird die Fassade nicht nur als passives Element, beispielsweise mit möglichst guten Wärmedämmeigenschaften, sondern voraussichtlich auch als aktives Element, als Kraftwerk, also als Energie liefernde Hülle gefordert sein. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Variabilität der Fassade, die Möglichkeit, sich an die Umgebungsbedingungen anzupassen.“
Elmar Jochheim: „Schon heute können Glasfassaden mehrere Funktionen gleichzeitig übernehmen, je nachdem wie sie konstruktiv ausgebildet und beschichtet sind. Im Extremfall kann eine Dreifachverglasung mit zehn Beschichtungen ausgestattet sein – allerdings deutlich zu Lasten der Transparenz und Helligkeit. Solche Vorstöße und Extrem-Objekt-Realisierungen braucht es, um das technisch Machbare auch tatsächlich marktreif für eine breite Anwendung optimieren zu können. Intelligente Fassaden werden künftig variabel wie Kleidungsstücke sein: Sie kühlen im Sommer, heizen im Winter, sind bespielbar als Medienträger, wahlweise transparent oder undurchsichtig und vieles mehr. Allerdings kann und sollte man nicht alles dem Glas zuweisen.“
Bodo Vodnik: Wie ist – jeweils in Ihrem Fachgebiet – die Zusammenarbeit mit Fachleuten wie z.B. Fassadenberatern oder Bauklimatikern?
Alexander Schröter: „Ein Gebäude muss funktionieren, es steht in Wechselwirkung mit der Technik, der Fassade, dem Nutzer, und hier gilt es, im Rahmen einer integralen Planung das Optimum zu finden. Leider wird ein Bauklimatiker noch immer viel zu selten als Berater in einem frühen Stadium hinzugezogen.“
Peter Berner: „Für uns ist ganz klar, dass wir beim Thema Fassade und in der Glasanwendung deutlich im Ingenieurbereich sind. Es ist ja auch kein Architekt vor 30 Jahren auf die Idee gekommen, Klimaanlagen selbst zu planen. Bei der Fassade gibt es heute noch solche Denkmodelle. Ich denke, ein Großteil der heutigen Bauaufgaben, sowohl beim Neubau als auch bei Sanierungs- oder Revitalisierungsmaßnahmen, muss geprägt sein vom Geist der Zusammenarbeit und nicht vom Denken im Elfenbeinturm, wie es bei manchen Architekten noch zu finden ist. Es gibt natürlich Extreme, sogenannte Stararchitektur. Die produzieren manchmal eine Menge technologischer Neuheiten, aber eben manchmal auch ökonomischen oder ökologischen Wahnsinn. Wir brauchen sie dennoch im Sinne einer Vorwärtsentwicklung, auch der Industrie.“
Peter Fromhold: „Je multifunktionaler beschichtetes Glas ist, desto beratungsintensiver ist es auch. Große Architekturbüros wie HPP oder astoc beziehen Fassadenberater ganz selbstverständlich schon frühzeitig in der Vorplanungsphase mit ein. Eine solche konzeptionelle Beratung im Hinblick auf technische und wirtschaftliche Lösungsmöglichkeiten der Fassade sowie in der anschließenden Fachplanung das Ausarbeiten technischer Lösungsvorschläge einschließlich Vordimensionierung und Berücksichtigung der bauphysikalischen Anforderungen erfolgt um so seltener, je kleiner ein Architekturbüro ist und je kleiner das Bauvorhaben.“
Alexander Schröter: „Hier liegt ein großes Risiko. Weil es immer komplizierter wird zu bauen, sollten von vornherein alle Fachplaner interdisziplinär zusammenarbeiten, damit etwas Tolles draus wird. Für mein Dafürhalten geschieht das viel zu wenig. Ein eventuell höherer Planungsaufwand lohnt sich und wird meist durch Einsparungen bei den Baukosten und eine bessere Gebäudeperformance mehr als wettgemacht.“
Bodo Vodnik: Wie gut fühlen Sie sich informiert, was das zurzeit Machbare an Fassadenglas ist?
Anton Bausinger: „Als Bauherr und Generalunternehmer ist mir nicht geläufig, wie der Stand der Glasentwicklung ist, muss ich gestehen. Wie kommen Endkunden an die Informationen? Ein überwiegender Anteil an Endkunden und Architekten will aus ganz nahe liegenden Gründen das haben, was sich jeder unter Glas vorstellt, nämlich – trotz aller Funktionen – ein möglichst farbloses Glas, durch das er hindurchschauen kann. Und wenn es dann auch noch entspiegelt ist, könnten Visionen von absolut lichten Passivhäusern entwickelt werden.“
Peter Fromhold: „Hier ist die Glasindustrie gefragt: Obwohl es viele hoch spezialisierte Produkte gibt wie z. B. VSG-Fassadenelemente mit innenliegenden hauchdünnen, durchscheinenden Naturstein-Platten oder SGG Cool-lite Extreme 60/28, ein Sonnenschutzglas mit extrem niedriger Energietransmission bei bester Lichtdurchlässigkeit, so ist dies vielen Bauherren und Investoren nicht bekannt. Und wohl auch vielen Architekten nicht.“
Remigiusz Otrzonsek: „Wir Architekten müssten eigentlich viel mehr auf Messen wie die glasstec oder die BAU gehen, um uns über neue Produkte schlau zu machen. Das betrifft ja nicht nur den Werkstoff Glas, sondern die gesamte Palette der Baustoffe. Uns fehlt es nur schlicht an der erforderlichen Zeit. Auf jeden Fall finde ich eine solche Veranstaltung sehr interessant für uns.“

Fazit
Glas wird auch weiterhin eine wichtige oder sogar tragende Rolle in Gebäuden spielen. Und die Frage ist dabei nicht, wie viel Glas zum Einsatz kommt, sondern welche Funktionen es übernimmt. Für die energetischen und ästhetischen Ansprüche steht schon jetzt eine beeindruckende Bandbreite an Gläsern zur Verfügung. Deutlich wurde aber auch, dass Planer sich von Glasherstellern noch mehr Engagement und Innovation wünschen. Ein weiterer, wesentlicher Aspekt ist die Kommunikation und Zusammenarbeit aller Beteiligten, um die Möglichkeiten, die der Baustoff Glas bietet, optimal zur Geltung zu bringen.“

http://de.saint-gobain-glass.com
Ansprechpartner für die Presse: Eva Kazmierczyk

Infokasten
Teilnehmer des Gesprächs:
• Anton Bausinger, Geschäftsführender Gesellschafter Bauunternehmung Friedrich Wassermann, Köln
• Peter Berner, Geschäftsführender Gesellschafter ASTOC Architects and Planners, Köln
• Peter Fromhold, Saint-Gobain Glass Deutschland, glastechnische Beratung für Großbauvorhaben
• Elmar Jochheim, AMP Ingenieurbüro für Fassadentechnik und Angewandte Bauphysik, Neuss
• Evamaria Nickel, Saint-Gobain Glass Deutschland, Produktmanagerin Nichtwohnbau
• Remigiusz Otrzonsek, Architekt und Geschäftsführer von Hentrich Petschnigg & Partner, Köln
• Alexander Schröter, Ingenieurbüro MüllerBBM, München
• Moderation: Bodo Vodnik, Saint-Gobain Glass Deutschland