Die Grenzen des Machbaren ausloten (05/18/2016 07:00:00 AM)

formTL plante Metallhülle, Unterkonstruktion und Zuschnitt für den Konzertsaal im Correo Central in Buenos Aires

Buenos Aires gilt als das Paris Südamerikas. Diese Bezeichnung verdankt die argentinische Hauptstadt den Villen und Prachtbauten nach französischem Vorbild, die im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Dazu gehört auch die ehemalige Hauptpost „Correo Central“. Der elegante neoklassizistische Bau steht mittlerweile unter Denkmalschutz. Er beherbergte neben repräsentativen und administrativen Räumen auch das gesamte Verteilerzentrum für Argentinien sowie das Telegrafenamt. Durch den technischen und organisatorischen Wandel im Postwesen kamen im 20. Jahrhundert ganze Arbeitsbereiche zum Erliegen. Die Stadt suchte neue Nutzungsmöglichkeiten für das prächtige Gebäude.

Seine Lage zwischen der historischen Altstadt und dem revitalisierten Hafenviertel Puerto Madero prädestinierte den Bau für eine kulturelle Nutzung. 2005 wurde ein internationaler Wettbewerb für das Néstor Kirchner Kulturzentrum mit Konzertsaal, Ausstellungs- und Veranstaltungsräumen sowie Restaurants ausgelobt, den die argentinischen Architekten B4FS mit einem anspruchsvollen Konzept für sich entscheiden konnten. Sie bewahrten und restaurierten die repräsentativen Räume und Fassaden des Bauwerks, wohingegen der Innenraum des Gebäudes mit den ehemaligen Arbeitsbereichen zugunsten eines riesigen Atriums entkernt wurde. Die tragende Funktion der entfernten Wände und Decken übernimmt eine umlaufende Stahlkonstruktion.

Ein eindrucksvolles Element in diesem Atrium sind von der Decke abgehängte Räume, die mit geätztem Glas ummantelt sind. Die besondere Materialität verleiht diesen Kuben die Anmutung eines Jugendstilkron¬leuchters – insbesondere, wenn das Glas farbig beleuchtet wird und so die Stimmung im Raum variiert.

Architektonischer Höhepunkt im Atrium ist der neue Konzertsaal: eine blau schimmernde, amorphe Freiform, die inmitten des Großraumes aufgeständert ist. Der Saal mit insgesamt 1.950 Plätzen basiert auf einem rechteckigen Grundriss mit gebauchten Seiten und abgerundeten Ecken. Während der Querschnitt eine ähnliche Form zeigt, sinkt der Raum im Längsschnitt zum Orchester hin nach unten ab. Im Volksmund wird der Konzertsaal auch „Ballena Azul“ – blauer Wal – genannt, da die Freiform von außen an den Kopf eines Pottwals erinnert. Das aus Stahlbeton konstruierte Gebilde ruht zum einen auf gewaltigen Stahlbetonstützen und ist zum anderen an drei Stellen des umlaufenden Stahltragwerks angehängt. Seine blau-schimmernde Anmutung verdankt der Wal einem tiefblauen Anstrich der Betonoberfläche, die von einem optisch nahtlosen Metallgewebe umhüllt ist. Bei dem Gewebe handelt es sich um den Typ Escale der GKD Gebrüder Kufferath AG. Für die statische und konstruktive Berechnung der komplexen Umhüllung wandte sich das Unter¬nehmen an die Ingenieure von fomTL. GKD und formTL arbeiteten bereits bei früheren Projekten erfolgreich zusammen, beispielsweise dem Planet M auf der EXPO 2000 oder einer Schule in Guangzhou im Jahr 2005. Während die geometrische Kugelform von Planet M und die Schule mit zwei gerundeten Flächen vergleichsweise einfach zu berechnen waren, brachte die amorphe Form des blauen Wals Konstrukteure und Hersteller an die Grenzen des technisch Machbaren.

Die Unterkonstruktion für die Metallhaut bildet ein Korsett aus vorwiegend vertikal angeordneten Flachstahlspanten, welches die Stahlbetonkonstruktion umgibt. Lediglich an der Unterseite verlaufen die Flachstähle horizontal. Das Korsett ist mittels stählerner Abstandhalter am Beton befestigt. Kleinere Abstandhalter verbinden die Stäbchen des Metallgewebes mit den Spanten. In enger Abstimmung mit GKD konstruierten die Ingenieure von formTL den Verlauf der Spanten und die Zuschnitte für die Metallhülle. Entscheidend für die Hülle war der Verlauf von Spiralen und Stäben, damit sich das Gewebe gut befestigen lässt und zugleich eine nahtlose Optik entsteht. Aus der ungewöhnlichen Form des Konzertsaals ergaben sich so 74 Gewebestreifen mit einer Größe von 5 bis 337 m2, die das Volumen umwickeln. Aus Transportgründen wurden die großen Streifen in kleinere Einheiten aufgeteilt, sodass die Hülle aus insgesamt über 1.200 Einzelelementen besteht. Dies stellte auch in punkto Logistik eine große Herausforderung auf der Baustelle dar. Darüber hinaus mussten die Monteure die Gewebe¬elemente an einigen besonders diffizilen Stellen vor Ort noch anpassen. Das Ergebnis ist beeindruckend und schafft ein einzigartiges Architekturerlebnis für die Konzertbesucher.



Bauherr
Staat Argentinien

Architekt
Bares Bares Bares Schnack &
Becker Ferrari architects (B4FS),
Buenos Aires/ARG
www.bfarquitectos.com
www.estudiobares.com

Tragwerks- und Gewebeplanung
formTL ingenieure für tragwerk und leichtbau gmbh, Radolfzell/DE
www.form-TL.de

Metallgewebe
GKD Gebr. Kufferath AG, Düren/DE
www.gkd.de

Abbildungen
Aussenaufnahmen: GKD+formTL/Jackie Rios
Fotos Innenraum: Pepe Mateos
Rendering: Bares Bares Bares Schnack &
Becker Ferrari architects (B4FS),
Buenos Aires/ARG



Weitere Informationen

formTL ingenieure für tragwerk und leichtbau gmbh
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