Komplexe Funktionsgläser (05/14/2015 07:00:00 AM)

Von der Idee zum fertigen Produkt: beschichtetes Glas
Schon vor zehn Jahren hieß es in der Glasbranche, die physikalische Grenze bei der Wärmebeschichtung sei erreicht. Heute können Flachglashersteller höchst komplexe Schichten entwickeln und vor allem im Low-E-Bereich und beim Sonnenschutz stetige Weiter- oder Neuentwicklungen erzielen. Je komplexer diese Schichten sind, desto länger dauert allerdings auch die Zeit von der Entwicklung bis zur Marktreife.
Die für Neubauten und Renovierungen geforderten energetischen Werte sind heutzutage nur noch mit beschichteten Gläsern zu erreichen. Diese Gläser sollen möglichst für ein angenehmes Raumklima sorgen und viel Tageslicht in den Raum lassen. Dies erreichen Gläser mit einer hohen Reflexion im Infrarotbereich und einer hohen Transmission im sichtbaren Spektralbereich. Es gibt verschiedene Verfahren zur Beschichtung: Verdampfung, nass-chemische Beschichtungen, diverse pyrolytische Verfahren wie Sol-Gel-Verfahren etc. Die geforderten physikalischen Werte von Wärmedämm- und Sonnenschutzgläsern erhält man am besten im sogenannten Magnetron-Sputter-Verfahren.

Wie funktioniert Magnetron-Beschichtung?
Die in diesem Verfahren hergestellten Dünnfilmschichten sind komplexe Doppel- oder Dreifachschichtsysteme, die aus reflektierenden Metallen wie Silber, Metalloxiden zur Entspiegelung und weiteren Komponenten bestehen. Dabei werden die Gläser durch unterschiedliche Druckkammern in eine Reaktionskammer gefahren, in der das für die Beschichtung per Kathodenzerstäubung notwendige Hochvakuum herrscht. Durch das Zusammenwirken eines sehr starken Magnetfeldes mit einem Prozessgas (Argon) und den Kathoden (Target) lösen sich Atome aus dem Target und lagern sich auf dem Glas als Schicht ab. Dieser Schritt wird mehrfach wiederholt, bis die gewünschte Beschichtung erreicht ist. Je nach Kathodenbestückung der Magnetronlinien werden in den unterschiedlichen Werken von Saint-Gobain Glass auch unterschiedliche Schichten produziert.

Vielstufiger Entwicklungsprozess
Um beispielsweise Sonnenschutzgläser weiter zu entwickeln, untersucht die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Saint-Gobain Glass, wie die unterschiedlichen und sich zum Teil widersprechenden Anforderungen an Sonnenschutz umgesetzt werden können: Je nach Region fordern Architekten möglichst farbneutrale Gläser, die außerdem eine hohe Lichttransmission, bei Sonnenschutzanwendungen aber gleichzeitig einen geringen g-Wert haben sollen – ein vermeintlicher Widerspruch. Gleichzeitig müssen die Grundvoraussetzungen für den Wärmeschutz gegeben sein.
Zunächst wird geprüft, inwieweit sich aktuelle Materialien für die Anforderungen eignen oder ob gegebenenfalls neue Materialien oder Materialkombinationen gefunden werden müssen. Ständiger Austausch zwischen unserer Forschungsabteilung und wissenschaftlichen Institutionen bildet die Basis dafür. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist der Austausch von Innovationen und Erfahrungen zwischen verschiedenen Branchen und Geschäftsfeldern von Saint-Gobain, die eine breite Weiterentwicklung ermöglichen. Nicht zuletzt wird in diesem Rahmen auch die Prozess- und Anlagentechnik beleuchtet und optimiert.

Haben die Forscher eine Idee für eine neue Beschichtung, wird diese in verschiedenen Stufen nach dem sogenannten Stage-Gate-Modell, einem internationalen Prozessmodell für die Innovations- und Produktentwicklung, entwickelt. Am Anfang stehen Machbarkeitsstudien im „Kleinen“, also mit kleinen Versuchs-Magnetron-Anlagen, um zum Beispiel Fragen zu klären wie „Passen die verwendeten Komponenten in der Praxis zueinander?“, „Wie sind die Farbwerte?“, „Welche physikalischen Werte erreichen wir?“ usw. Dabei wird bei jeder neuen oder optimierten Schicht auf ihre spätere Verarbeitbarkeit geachtet. So darf beispielsweise beim Verarbeiten – Transport, Waschen etc. – die Schicht nicht aufplatzen, da sonst das Silber korrodieren würde und dadurch die Funktion der Schicht beeinträchtigt und die Ästhetik verschlechtert werden. Wenn diese Versuchsergebnisse stimmen, wird eine Anzahl von Versuchen auf der industriellen Großanlage gefahren, um eine statistische Sicherheit zu bekommen, dass die Fertigung stabil ist. Wenn dies so ist, folgen Weiterverarbeitungsversuche mit ausgewählten Verarbeitern. Bei dem heutigen Komplexitätsgrad der Schichten geschieht dies anfangs gemeinsam mit den Forschern von Saint-Gobain Glass. Hier geht es um Fragen der Wasserqualität in der Waschanlage, welche Bürsten zum Einsatz kommen, wie die Sauger beschaffen sein müssen, die auf die beschichtete Seite treffen usw. Die Verarbeiter geben Rückmeldung hinsichtlich ihrer Erfahrungen und so beginnt der nächste Optimierungsprozess der Schicht.

Um verlässliche Aussagen zu bekommen, ist eine bestimmte Anzahl von Beschichtungs- und Verarbeitungsversuchen des neuen Produkts notwendig. Das kann eine Zeitlang dauern, da die Erprobungsphase sowohl in den Werken von Saint-Gobain Glass als auch beim Verarbeiter parallel zum Alltagsgeschäft stattfindet. Dieser „Kreislauf“ kann mehrere Male geschehen, bis das Produkt marktreif ist. Bestandteil dieses Stage-Gate-Prozesses sind natürlich auch kaufmännische Aspekte, Vertriebs- und Marketingkonzepte usw.


Komplexe Wechselwirkungen
Das im Oktober 2014 auf den Markt gebrachte SGG PLANICLEAR ist ein schönes Beispiel, wie Saint-Gobain Glass auf Marktanforderungen reagiert hat. Mit seiner höheren Lichtdurchlässigkeit im Vergleich zu herkömmlichem Floatglas wie beispielsweise SGG PLANILUX erfüllt SGG PLANICLEAR die Wünsche insbesondere von Architekten und Innenarchitekten nach einem neutraleren Glas und damit einhergehendem Komfort. SGG PLANICLEAR ist jetzt Ausgangsbasis für weitere Produktentwicklungen von beschichteten Gläsern, die die Forschungs- und Entwicklungsabteilung in nächster Zeit vornehmen wird. So konnte auf dieser Basis beispielsweise das neue Produkt SGG COOL-LITE SKN 176 mit sehr hoher Farbneutralität und exzellenten physikalischen Werten entwickelt werden.
Noch nie in der Geschichte der Glasherstellung waren Glasbeschichtungen so komplex wie heute. Je komplexer sie sind, desto umfangreicher es auch, neue Produkte von der ersten Idee bis zur Marktreife zu entwickeln. Das ist ein starker Ansporn für ein historisch gewachsenes Unternehmen wie Saint-Gobain Glass, dort treibende Kraft zu sein und mit neuen Ideen Stück für Stück die Lebensqualität der Menschen zu verbessern.

Mehr Informationen zum Unternehmen und zu den Produkten: http://de.saint-gobain-glass.com/
 


Tests am Glas im Forschungs- und Entwicklungszentrum Herzogenrath
© Forschungs- und Entwicklungszentrum Herzogenrath



Abkühlungsprozess des Floatglases während der Produktion.
© Saint-Gobain Glass Deutschland, Fotograf: Christoph Seelbach



Das auf drei Seiten entspiegelte Zweifach-Isolierglas SGG VISION-LITE erlaubt einen nahezu reflexionsfreien Blick tief ins Innere des Telekom Flagshipstores Köln
© Saint-Gobain Glass Deutschland, Fotograf: Christoph Seelbach



Verschiedene Konzeptgläser aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Saint-Gobain Glass waren auf der glasstec2014 zu sehen.
© Saint-Gobain Glass Deutschland, Fotograf: Olaf Rohl



Thomas Schuster